10.4.2006

Presse

Offener Brief
an die Staatsanwaltschaft Stuttgart

NS-Kriegsverbrechen 1944 in Sant'Anna di Stazzema -
Überlebende und Angehörige der Opfer fordern Gerechtigkeit


10.4.2006

An die Staatsanwaltschaft Stuttgart
Oberstaatsanwalt Häußler
Neckarstraße 145
D-70190 Stuttgart



Sehr geehrter Herr Häußler,

anlässlich des 60. Jahrestags der Befreiung von Faschismus und Krieg hatten die Initiative gegen das Vergessen und die VVN-Bund der Antifaschisten Stuttgart einen Offenen Brief an Sie mit der Forderung gerichtet, die Stuttgarter Staatsanwaltschaft möge Anklage gegen die Angehörigen der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" erheben. Dem SS-Massaker ist ein ganzes italienisches Dorf mit 560 Zivilisten, darunter 120 Kinder, zum Opfer gefallen. Ähnliche Aufforderungen haben Sie von BürgerInnen aus anderen deutschen Städten erhalten, die die Überlebenden und Angehörigen bei ihrem Anliegen unterstützen, dass dieses Verbrechen vor einem deutschen Gericht aufgeklärt und damit Gerechtigkeit geschaffen wird.

Mit Betroffenheit hat das Bündnis erst jetzt von dem Urteil des Militärgerichts in La Spezia im Juni 2005 Kenntnis erhalten, in dem Ludwig Göring aus Karlsbad-Ittersbach in Baden und neun weitere SS-Angehörige verurteilt wurden.

Übereinstimmend mit Fachleuten des Militärhistorischen Instituts Freiburg halten wir es für einen Justizskandal, dass bis heute keine Anklage gegen die Angehörigen dieser verbrecherischen SS-Division erhoben worden ist. Wir fordern Sie auf, diesen Skandal zu beenden und der Gerechtigkeit einen Weg zu bahnen.

Die Fakten sind Ihnen geläufig. Sie kennen das Zeugnis von Enrico Pieri, dessen kleine Schwester Luciana im Alter von 5 Jahre vor seinen Augen an den Füßen gepackt und solange mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen wurde, bis der Schädel zertrümmert war. Sie wissen, dass Ludwig Göring zugegeben hat, dass er auf eine Gruppe von 20 bis 25 Frauen und Kinder geschossen hat, "bis der Patronengurt leer war".

Sie wissen auch aufgrund der Recherchen des italienischen Historikers Carlo Gentile, dass sich die Blutspur dieser SS-Division durch ganz Norditalien zieht. Allein in den zwei Monaten von Juli bis September 1944 sind ihr 2500 Zivilisten, überwiegend Frauen und Kinder, zum Opfer gefallen. Nach SS-Darstellung handelte es sich hierbei um kriegsbedingte Vergeltungsmaßnahmen gegen Partisanenaktionen. Ganz abgesehen davon, dass das ein völkerrechtswidriges Verbrechen ist, lässt sich diese Darstellung nicht aufrechterhalten.

Die SS-Division verfolgte in Italien zu diesem Zeitpunkt eine rassistisch motivierte Ausrottungsstrategie gegen die Zivilbevölkerung ähnlich wie an der Ostfront. Das hat der Freiburger Militärhistoriker Gerhard Schreiber anhand von Aussagen der Wehrmacht- und Naziführung nachgewiesen, die in der Frankfurter Rundschau im September 1997 veröffentlicht wurden. Dass das SS-Massaker in Sant'Anna keine Reaktion auf Partisanenangriffe war, sondern vielmehr das Ziel hatte, die Dorfbewohner auszurotten, wurde auch aufgrund einer Zeugenaussage - veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung im Dezember 1999 - bestätigt. Es ist belegt, dass das Führungspersonal dieser SS-Division im Konzentrationslager Dachau im menschenverachtenden rassistischen NS-Geist geschult wurde. Alle diese Zusammenhänge können und müssen Ihnen bekannt sein.

Unter Berufung auf das Völkerrecht, insbesondere die UN-Charta für Menschenrechte, fordern wir Sie auf, endlich Anklage gegen die zehn in La Spezia verurteilten Angehörigen der 16. SS-Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" wegen Beteiligung an einem NS-Kriegsverbrechen zu erheben.

Wir fordern Sie auf, unverzüglich die Verfolgung von AntifaschistInnen wegen angeblich verfassungswidriger Verwendung von "zerbrochenen Hakenkreuzen" einzustellen und die gewonnene Arbeitszeit auf die Verfolgung des faschistischen Kriegsverbrechens in Sant'Anna di Stazzema zu konzentrieren.

Das wäre ein würdiger und notwendiger Beitrag zum 61. Jahrestag der Befreiung. Des großen Danks der Überlebenden und der Angehörigen der Opfer könnten Sie sicher sein.


Mit freundlichen Grüßen
Silvia Schulze



© Antifaschistisches Aktionsbündnis Karlsruhe