31.3.2008

Infos
Artikel zum Reichstagsbrand von Alexander Bahar:

Den hochinteressanten Vortrag, den Alexander Bahar am 14. Februar 2008 in Karlsruhe zum Reichstagsbrand hielt, und die ebenfalls sehr fruchtbare Diskussion zum Thema können wir hier leider nicht wiedergeben.

Stattdessen veröffentlichen wir einen seiner Artikel, abgedruckt in der "jungen Welt" am 27.2.2008, der die Kernpunkte der Argumentation enthält.




Kein Zufall der Geschichte

Der Reichstagsbrand und die Mär vom »Alleintäter«

Von Alexander Bahar

Als am 27. Februar 1933, vor nunmehr 75 Jahren das Reichstagsgebäude in Berlin in Flammen aufging, wurde nicht nur das Haus des deutschen Parlaments stark beschädigt. Der Großbrand führte auch zur Beseitigung der Reste bürgerlicher Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland und zur Errichtung der Nazidiktatur mit all ihren apokalyptischen Folgen. Für die Nazis war der Reichstagsbrand vor allem eines: Vorwand für den Terror. Trotz ihrer absoluten wissenschaftlichen Unhaltbarkeit hält sich hierzulande bis heute hartnäckig die Legende von der Alleintäterschaft des nahezu blinden Holländers Marinus van der Lubbe. Ein Fall kollektiver Verdrängung? Oder kalkulierte Propaganda?

Am 23. Dezember 1933 wurde Marinus van der Lubbe, Anhänger einer »rätekommunistischen« Splittergruppe, im sogenannten Leipziger Reichstagsbrandprozeß wegen Hochverrats und Brandstiftung zum Tode verurteilt. Er wurde am 10. Januar 1934 unter dem Fallbeil hingerichtet. Das Reichsgericht hatte ihn für schuldig befunden, das Reichstagsgebäude und zuvor andere öffentliche Gebäude in Berlin in Brand gesetzt zu haben. Van der Lubbe war am 27. Februar 1933 gegen 21.23 Uhr im brennenden Reichstag festgenommen worden. In seiner Manteltasche hatte man Reste von Kohlenanzündern gefunden.

Am 6. Dezember 2007, also beinahe 74 Jahre nach diesem Justizmord, hat die deutsche Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe das Todesurteil gegen van der Lubbe »von Amts wegen« aufgehoben. Grundlage für diesen förmlichen Akt ist das Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege vom 25. August 1998. Unberührt von der Karlsruher Entscheidung bleibt das Urteil hinsichtlich der vier »mangels Beweisen« freigesprochenen kommunistischen Mitangeklagten – darunter der spätere Generalsekretär der Komintern und Ministerpräsident der Volksrepublik Bulgarien Georgi Dimitroff und der damalige Vorsitzende der KPD-Reichstagsfraktion Ernst Torgler.

Begründet wurde die Aufhebung des Urteils gegen van der Lubbe konkret damit, dass dieses auf der Grundlage zweier NS-Unrechtsvorschriften zur Durchsetzung der Naziherrschaft zustande gekommen war. Zum einen hatte das Hitlerkabinett am Tag nach der Festnahme van der Lubbes im brennenden Reichstagsgebäude die Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat« (»Reichstagsbrandverordnung«) erlassen. Sie legte in Paragraph 5 fest, dass eine Reihe von Verbrechen, darunter Hochverrat und Brandstiftung, die bis dahin mit lebenslangem Zuchthaus bedroht waren, fortan mit dem Tode zu bestrafen seien. Um van der Lubbe zum Tode verurteilen zu können, erließ die Hitlerregierung am 29.März 1933 ein weiteres Gesetz, das sogenannte Gesetz über die Verhängung und den Vollzug der Todesstrafe, auch »Lex van der Lubbe« genannt, weil es ausschließlich auf den Holländer zielte. Danach waren die Strafverschärfungen aus der Reichstagsbrandverordnung auch auf Taten anzuwenden, die zwischen dem 30. Januar und dem 28. Februar 1933 begangen worden waren.

Die »Lex van der Lubbe« war das erste Gesetz, das die Hitlerregierung nach den Regeln des Ermächtigungsgesetzes ohne Zustimmung des Reichstages erlassen hat. Es verstieß gleich in zweifacher Hinsicht gegen rechtsstaatliche Prinzipien: einmal gegen das Rückwirkungsverbot (»nulla poena sine lege«), ["nulla poena sine lege" (lat.) - "Keine Strafe ohne Gesetz", d.Red.] zum anderen gegen den Grundsatz, dass Gesetze allgemeingültig sein müssen. Mit der formalen Aufhebung des Todesurteils gegen van der Lubbe hat die höchste deutsche Anklagebehörde (nicht etwa ein Gericht!) die Akte Reichstagsbrand nach der übereinstimmenden Ansicht von Strafrechtlern endgültig geschlossen. Mit dieser Entscheidung wollte Karlsruhe offenbar risikolos ein wenig rühmliches Kapitel der deutschen Rechtsgeschichte beenden. Schon in der Vergangenheit waren »alle Versuche zur Durchführung eines Wiederaufnahmeverfahrens (...) letztlich am Widerstand der deutschen Nachkriegsjustiz«[1] gescheitert, – so Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgerichtshof in Leipzig.

Der Historikerstreit um die Frage nach den Hintergründen des Brandes schwelt indes weiter. War es ein Einzeltäter, der das Reichstagsgebäude in einen Hort der Flammen verwandelte? Oder waren es die Nazis selbst, die mit dieser Tat den Vorwand schufen für die flächendeckende Verfolgung der politischen Opposition und die Zerstörung der parlamentarischen Demokratie? Improvisation oder Planung? Die Beantwortung dieser Frage ist für die Einschätzung des Nazi-Machtantritts von entscheidender Bedeutung.

Mit dem Brand in die Diktatur

Unbestritten ist immerhin, dass Brandstiftung im Spiel war und dass die Regierung Adolf Hitlers – dem Reichspräsident Paul von Hindenburg, bedrängt von einflussreichen Kreisen aus Wirtschaft und Militär, am 30. Januar 1933 die Kanzlerschaft übertragen hatte – den Brand skrupellos für ihre Zwecke nutzte. Ohne zu zögern und ohne jegliche Beweise beschuldigten Hitler und Göring, kommissarischer preußischer Innenminister und Polizeigewaltiger im Land Preußen, sofort die Kommunisten der Brandstiftung. Kurzerhand erklärten sie den Brand im Reichstagsgebäude zum Signal für den angeblich unmittelbar bevorstehenden kommunistischen Aufstand. So lautete auch die offizielle Rechtfertigung für die nur einen Tag später von Reichspräsident Hindenburg auf Empfehlung des Kabinetts »zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte« erlassene Notverordnung »zum Schutz von Volk und Staat« sowie ihre Zwillingsschwester, die »Verordnung gegen Verrat am deutschen Volke und hochverräterische Umtriebe«, mit denen die wesentlichen Grundrechte der Weimarer Verfassung gleichsam über Nacht außer Kraft gesetzt wurden. Die sogenannten Brandverordnungen, die bis zum Ende des »Dritten Reiches« Gültigkeit behalten sollten, bildeten die pseudo-legalistische Grundlage für das Naziregime. Erst mit Hilfe dieser Notverordnungen, die der Hitlerregierung auch die alleinige Verfügungsgewalt über die Presse und den Rundfunk sicherten und damit völlig neue Propagandamöglichkeiten eröffneten, sowie flankiert vom Terror der von Göring bereits im Februar zur Hilfspolizei ernannten und mit Schießbefehl ausgestatteten SA, war es der NSDAP und ihren deutsch-nationalen Verbündeten möglich, bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933 einen knappen Sieg einzufahren. Daraufhin wurde die Verfolgung Andersdenkender erheblich verschärft. Zehntausende – vorwiegend linke – Oppositionelle wurden, zum Teil noch in der Brandnacht und innerhalb der nächsten Wochen, in »Schutzhaft« genommen und in improvisierte Konzentrationslager verschleppt.

Bereits 1933, kurz nach dem Reichstagsbrand, wurde im Ausland allgemein angenommen, dass die Nazis, an der Spitze Göring, als die Nutznießer der Brandstiftung auch deren Urheber seien. Dies war auch der Tenor des unter Leitung von Willi Münzenberg entstandenen »Braunbuchs gegen Reichstagsbrand und Hitlerterror«, in dem deutsche Emigranten versuchten, den Beweis für die Nazitäterschaft zu führen. Die Juristische Kommission des Internationalen Untersuchungsausschusses befand in dem im September 1933 (noch vor dem Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht) tagenden Londoner Gegenprozess ebenfalls die Nazis der Brandstiftung für schuldig. Wer noch daran zweifelte, der wurde spätestens durch den mit großem Pomp aufgezogenen Leipziger Reichstagsbrandprozeß eines Besseren belehrt. Mit dem Verfahren, das allen rechtsstaatlichen Prinzipien spottete, desavouierte sich die Naziführung von den Augen der Weltöffentlichkeit selbst aufs gröbste.

Bis 1949 zweifelte daher kaum jemand, dass der Reichstagsbrand das Werk der Nazis war. Auch die deutsche Geschichtsschreibung nach 1945 hatte dazu keine Veranlassung. Doch dann tauchte plötzlich die Behauptung auf, der im Reichstag festgenommene, nahezu blinde Holländer habe den Brand ganz allein gelegt. Urheber dieser Legende war der erste Chef der Gestapo, Rudolf Diels, Organisator der Großrazzia unmittelbar nach dem Reichstagsbrand. Sechs Stunden vor (!) dem Brand hatte Diels, damals noch Chef der Preußischen Politischen Polizei, in einem Polizeifunktelegramm vor kommunistischen Provokationen am Tage der Reichstagswahl gewarnt: »Geeignete Gegenmaßnahmen sind sofort zu treffen, kommunistische Funktionäre erforderlichenfalls in Schutzhaft zu nehmen.«

Mit Hilfe ehemaliger Gestapo-Mitarbeiter strickte Diels seit 1949 an seiner Apologetik, in der der Reichstagsbrand eine zentrale Rolle spielte[2]. 1949 präsentierte die Zeitschrift Neue Politik des Schweizer Nazikollaborateurs Wilhelm Frick eine Artikelserie »Der Reichstagsbrand in anderer Sicht«. Hinter dem anonymen Autor verbarg sich Diels' ehemaliger Adlatus Heinrich Schnitzler, u. a. Mitorganisator der von Diels geleiteten Massenverhaftungen in der Brandnacht. Nach 1945 reüssierte Schnitzler als Ministerialrat in der Polizeiabteilung des Innenministeriums in Nordrhein-Westfalen. Die Nachkriegskorrespondenz zwischen Diels und Schnitzler enthüllt, wie sich die beiden für ihre Entnazifizierung abstimmten. Diels: »Es scheint mir wichtig, unsere Arbeit als eine einheitliche Widerstandsleistung darzustellen, die zunächst den Gang der Entwicklung weg vom Rechtsstaat und hin zum reinen Terrorismus verzögert hat.«

In einer mit großem Brimborium inszenierten Spiegel-Serie behauptete dann 1959/60 Fritz Tobias, ein bis dahin unbekannter Beamter des Verfassungsschutzes, zweifelsfrei beweisen zu können, dass van der Lubbe den Reichstag allein angezündet habe[3] – eine grandiose Irreführung, die vor Fehlern und Manipulationen strotzte. Dabei stützte sich der Autor einseitig auf voreingenommene Zeugen, nämlich auf den schon erwähnten Gestapo-Chef Rudolf Diels und dessen ehemalige Mitarbeiter, die später im Faschismus Karriere machten und nach dem Krieg im Polizei- und Verwaltungsapparat der Bundesrepublik Deutschland Verwendung fanden. Im Spiegel selbst hatte ein gewisser Paul Karl Schmidt alias Paul Carell, vormals Pressechef von NS-Außenminister Ribbentrop und Spezialist für antisemitische Provokationen, bereits drei Jahre vor Erscheinen der Reichstagsbrandserie von Fritz Tobias die These von der Alleintäterschaft Marinus van der Lubbes lanciert.[4] Schmidt-Carell war übrigens auch derjenige, der das Manuskript von Fritz Tobias für den Spiegel als erster redigierte.

Die Nazis seien vom Reichstagsbrand völlig überrascht worden und hätten ehrlich an ein kommunistisches Attentat geglaubt. Keine zielgerichtete Planung also, sondern ein »blinder Zufall« und geschicktes Improvisieren hätten Hitler und Konsorten in den Alleinbesitz der Macht gebracht – eine These, die der Spiegel, unbeeindruckt von allen gegenteiligen Forschungsergebnissen, bis heute wiederkäut.[5] Die Darstellung der Nazitäterschaft wies Tobias als angebliche kommunistische Propagandalüge zurück.

Tobias-These akzeptiert

Die offizielle bundesdeutsche Zeitgeschichtswissenschaft kapitulierte nach anfänglichen Zweifeln schon bald vor der geballten Meinungsmacht des Hamburger Nachrichtenmagazins.

Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) in München beauftragte damals seinen jungen Mitarbeiter Hans Mommsen, die Arbeit von Tobias zu prüfen. Statt einer kritischen Analyse lieferte der karrierebewusste Nachwuchswissenschaftler eine mehr oder weniger vollständige Übernahme der Darstellung des Hobbyhistorikers, ohne die zahlreichen Irrtümer, Verzerrungen und Manipulationen zu bemerken – oder bemerken zu wollen –, die von der Forschung nachträglich festgestellt worden sind. Zuvor hatte Mommsen mit allen (auch unlauteren) Mitteln dafür gesorgt, dass ein anderer Wissenschaftler, der Historiker und Oberstudienrat Dr. Hans Schneider, der die Thesen von Tobias als haltlos entlarvt hatte[6], mit fadenscheinigen Argumenten ausmanövriert wurde. In einem Aktenvermerk aus dem Jahr 1963 nimmt Mommsen zu der vom Institut in Auftrag gegebenen Expertise Schneiders Stellung. Mommsen missfällt dessen gründliche Arbeit. Sie scheine »aus allgemeinpolitischen Gründen (...) unerwünscht« zu sein, weshalb »das Institut ein Interesse habe, »die Publikation Schneiders überhaupt zu verhindern«. Mommsen gibt zu bedenken, ob das Institut nicht über das »Stuttgarter Ministerium« (das baden-württembergische Kultusministerium) Druck auf Schneider ausüben könne, um eine anderweitige Veröffentlichung der Arbeit zu verhindern.[7] Allerdings war die Stoßrichtung von Schneiders Arbeit wohl nicht nur Mommsen, sondern auch anderen – einflussreicheren – Personen im IfZ nicht genehm. Das ist aus der Korrespondenz mit Schneider und internen Aktennotizen des Instituts unschwer herauszulesen. Bereits am 25. Juli 1961 hatte Mommsen nach einem Besuch Schneiders im Institut in einer Notiz festgehalten: »Während Schneider eine Widerlegung [der Tobias-Thesen – der Autor] im Auge hatte, wird unsererseits übereinstimmend betont, dass aus taktischen Gründen eine Infragestellung bzw. Erschütterung durchaus genüge.«

Als die entsprechenden Akten dieses anrüchigen Manövers Jahrzehnte später zutage kamen, sah sich das Institut veranlasst, Mommsen öffentlich zu bescheinigen, dass sein Vorgehen »unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten völlig inakzeptabel« gewesen sei (die dubiose Rolle des Instituts in dieser Affäre blieb dabei freilich unerwähnt). Dieses für einen Wissenschaftler im Grunde vernichtende Verdikt hat Mommsen aber offensichtlich wenig beeindruckt: Nach wie vor lehnt er jede Korrektur an längst widerlegten Thesen ab und erklärt anders lautende Forschungsergebnisse für irrelevant – oder gefälscht –, wenn er sie überhaupt zur Kenntnis nimmt.

Für Mommsen bot sich mit dem »Gutachten« die ungeahnte Chance, seine spekulative These, wonach Hitler und die Nazis gewissermaßen planlos ins »Dritte Reich« hinein gestolpert seien, auf eine vermeintlich solide Faktenbasis zu stellen. War der Reichstagsbrand nur ein böser Zufall der Geschichte, die sich daran anschließende Suspendierung der bürgerlichen Rechte und die Verfolgung der Kommunisten nur eine bona fide ["bona fide" (lat.) - "in gutem Glauben", d.Red.] erfolgte Panikreaktion der völlig überraschten Naziführung, dann konnte von einer planvollen, vorherseh- und damit verhinderbaren (!) Machteroberung kaum noch ernstlich die Rede sein.

»dass die ›herrschende‹ Meinung der Historiker weithin dem von Mommsen ›wissenschaftlich‹ Abgesegneten folgte, hängt zum einen damit zusammen, dass die meisten Historiker bei Mommsen zitatgetreu abschrieben, aber nicht selbst recherchierten. Zum anderen schien die Frage Einzeltäterschaft oder Nazi-Täterschaft an der Interpretation der Nazi-Herrschaft insgesamt nicht viel zu ändern«, so der Berliner Politikwissenschaftler Prof. Wolf-Dieter Narr.[8]

Alle Versuche, die Alleintäterthese zu erschüttern, scheiterten in der Folge an der Meinungsführerschaft des Spiegel. Unterstützt vom Hamburger Nachrichtenmagazin, bald darauf auch von Zeit, FAZ, Welt und Co. wurde die Alleintäterthese Bestandteil des Kanons der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Wer an der Tatversion des Fritz Tobias zweifelte, der wurde bald selbst vom Hamburger Nachrichtenmagazin aufs Korn genommen. Und wieder war der Verfassungsschutz mit von der Partie: diesmal mit den Herausgebern der Jahrbücher Extremismus&Demokratie, Eckhard Jesse und Uwe Backes.[9] Bis heute gilt die Alleintäterthese gewissermaßen als offizielle Lehrmeinung – so jedenfalls wird sie von einem Großteil der meinungsführenden deutschen Medien präsentiert, zuletzt wieder anlässlich der Urteilsaufhebung durch die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe.

Alleintäter-These widerlegt

Dabei haben sich gerade in jüngerer Zeit weitere Anhaltspunkte für die Unhaltbarkeit dieser These ergeben. Als sich nach dem Anschluss der DDR an die BRD Anfang der 1990er Jahre die Archive in Ostdeutschland öffneten, waren auch die Originalakten des Reichstagsbrandprozesses von 1933 (von Politischer Polizei, Reichsgericht und Oberreichsanwalt) erstmals allgemein zugänglich. Der Verfasser dieses Beitrags gehört zu den ersten Forschern, die diese Akten einsehen und vollständig auswerten konnten. Die Ergebnisse dieser Forschungen liegen inzwischen gedruckt vor[10]. Sie bestätigen in weiten Teilen die Erkenntnisse, zu denen eine interdisziplinäre Forschergruppe um den Schweizer Historiker und ehemaligen Direktor des Historischen Instituts der Universität Bern, Prof. Walther Hofer, bereits in den 1970er Jahren gelangt war.[11] Kernstück der damaligen Untersuchungen, an denen auch der spätere Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs Christoph Graf leitend mitgewirkt hatte, war ein Gutachten des Thermodynamischen Instituts der TU Berlin. Die Expertise gelangte zu dem eindeutigen Schluss, dass Marinus van der Lubbe den Großbrand im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes unmöglich allein in der ihm zur Verfügung stehenden Zeit und mit den von ihm verwendeten Brandmitteln (Kohlenanzünder) verursacht haben konnte – es sei denn, der Raum wäre zuvor entsprechend präpariert gewesen. Die Expertise bestätigte die Gutachten der seinerzeit vom Reichsgericht bestellten Sachverständigen, die, bei Unterschieden im Detail, zum gleichen Ergebnis gekommen waren, nämlich, dass van der Lubbe Mittäter gehabt haben muss. Einer dieser Gutachter, der chemische Brandsachverständige Dr. Wilhelm Schatz, hatte überdies an allen Brandstellen des Plenarsaals Spuren einer selbstentzündlichen Flüssigkeit entdeckt (Phosphor in Schwefelkohlenstoff), die identisch ist mit der Substanz, die seinerzeit auch die Berliner SA benutzt hatte, um z. B. gegnerische Plakate zu zerstören. Die Auswertung der nun zugänglichen Ermittlungsakten ergab u. a., dass van der Lubbe noch weniger Zeit für die Brandlegung im Reichstagsgebäude gehabt hatte, als man bislang annahm: nämlich nur maximal 15 Minuten. Die Nazigrößen Hitler, Göring und Goebbels, auch dies geht aus den Akten hervor, waren weit früher am Tatort, als sie gegenüber dem Reichsgericht zugaben. Im Falle Görings lässt dies nur den Schluss zu, dass er vorab von der Brandstiftung informiert gewesen sein muss.

Inzwischen wurden weitere brandtechnische Untersuchungen durchgeführt, die eine Alleintäterschaft van der Lubbes so gut wie ausschließen. Eine Untersuchung des Allianz-Zentrums für Technik (AZT) aus dem Jahr 2005 kam zu dem eindeutigen Ergebnis: »Mit den Mitteln (...), die van der Lubbe verwendet haben soll, hätte die Zeit nicht ausgereicht – es sei denn, er hatte Helfer«, so Gutachter Dr. Peter Schildhauer. Ein identisches Ergebnis erbrachte ein Experiment im Rahmen der ZDF-Sendung »Abenteuer Wissen«, das im Juni 2007 unter Beobachtung der Berliner Feuerwehr und des Landeskriminalamts Berlin durchgeführt wurde. Bei den Brandversuchen wurden Materialien verwandt weitgehend ähnlich denen, die sich 1933 im Plenarsaal befanden; van der Lubbes Weg durch das Reichstagsgebäude wurde auf Basis der originalen Ermittlungsakten rekonstruiert. Dabei zeigte sich, dass er in der kurzen Zeit gerade einmal seine Jacke in Brand setzen konnte, nicht aber den Vorhang, mit dem er angeblich das Feuer im Plenarssal gelegt haben will.

Zauberformeln und Nebelkerzen

Bis heute haben die Anhänger der Einzeltäterthese keinerlei Forschungsergebnisse vorgelegt, die ihre These stützen bzw. die oben genannten wissenschaftlichen Gutachten und Expertisen widerlegen würden. Außer unbewiesenen Behauptungen und längst widerlegten Fälschungsvorwürfen sowie offenkundigen Manipulationen haben sie nichts zu bieten. Auch eine von Mommsen angeregte semi-fiktionale Publikation[12] folgt dieser Linie. Alle Fakten, die der Alleintäterthese zuwiderlaufen, werden darin konsequent ignoriert bzw. geleugnet oder ins Gegenteil verkehrt. Mommsen steuerte zu der Propagandabroschüre sogar ein Vorwort bei. Darin brandmarkte der Großhistoriker in einem Rundumschlag alle als »Verschwörungstheoretiker«, die wie der bekannte Zeithistoriker Karl Dietrich Bracher nach wie vor nicht an die Alleintäterthese glauben wollen. Das einzig Neue: die Behauptung, mittels des sogenannten »Backdraft«-Effekts (schon lange als »Rauchgasexplosion« bekannt) sei der Reichstagsbrand spielend als das Werk eines einzelnen zu erklären. »Zum Phänomen des ›Backdraft‹ passen alle bekannten Details des Brandes im Reichstagsplenarsaal«, heißt es darin. Damit hat der Verfasser freilich ein fulminantes Eigentor geschossen. »Unterstellt man die Richtigkeit dieser Aussage«, so Prof. Karl Stephan vom Institut für Technische Thermodynamik und Thermische Verfahrenstechnik der Universität Stuttgart, »so beweist sie allerdings das Gegenteil von dem, was bewiesen werden soll, denn ein ›Backdraft‹ wäre vor allem dann wahrscheinlich, wenn man zuvor flüssige Brennstoffe in den Plenarsaal eingebracht hätte«. Stephan folgert: »Keinesfalls lässt sich damit die These von der Alleintäterschaft van der Lubbes begründen.« Auch das Zauberwort »Backdraft« entpuppt sich hinsichtlich seines angeblichen Beweiswerts für die Alleintäterthese also bei näherem Hinsehen als bloße Nebelkerze.

Funktion der Legende

Der Reichstagsbrand und die Art und Weise, wie die Nazis ihn politisch »gestaltet« und instrumentalisiert haben, um den permanenten Ausnahmezustand zu legitimieren, widerspricht nicht nur der These von der »Legalität« des Nazimachtantritts. Vom Nebel befreit, in den ihn die Vertreter der Naziunschuldsthese gehüllt haben, entlarvt er darüber hinaus die rationalisierende Behauptung aller Steigbügelhalter und Mitläufer, »man habe die Absichten der Nazis und ihre Art der systematischen Repression und Feinderklärung zu Beginn noch nicht erkennen können«. Ohne Frage hat sich die Nazidiktatur vor allem während des Krieges und bei der Durchsetzung der »Endlösung der Judenfrage« dynamisch brutalisiert. »Ihre menschenverachtende Brutalität und ihr Terrorcharakter waren jedoch im Februar/März 1933 durchaus schon erkennbar – für alle, die Augen hatten zu sehen, Ohren zu hören und ein Gewissen, das sich nicht im nationalsozialistischen Ausnahmezustand befand. Darum ist der Reichstagsbrand noch heute ein ›historischer Lernort‹« – so Dr. Dieter Deiseroth, Richter am Bundesverwaltungsgerichtshof in Leipzig.

Das dürfte zu einem guten Teil erklären, warum die Einzeltäterthese ihrer absoluten wissenschaftlichen Unhaltbarkeit zum Trotz bis heute Nachbeter findet. Bezeichnenderweise sitzen diese bevorzugt in den Redaktionssesseln führender Mainstream-Medien, denen »Volksaufklärung und Propaganda« bekanntlich ganz besonders am Herzen liegen.

aus: "junge Welt" vom 27.2.2008:
"Kein Zufall der Geschichte"
Mit freundlicher Genehmigung des Autors.
Anmerkungen:
1
Dieter Deiseroth, »Die Legalitäts-Legende. Vom Reichstagsbrand zum NS-Regime«, Blätter für deutsche und internationale Politik 2/2008, S. 91–102, Zitat S. 94
2
Vgl. auch: Rudolf Diels: »Die Nacht der langen Messer ... fand nicht statt«. Der Spiegel, Hamburg, 7.7.1949. Rudolf Diels: Lucifer ante portas, Zürich 1949, Stuttgart 1950
3
Stehen Sie auf, van der Lubbe«. Der Reichstagsbrand 1933 – Geschichte einer Legende. Nach einem Manuskript von Fritz Tobias«, in: Der Spiegel, 43/1959-1-2/1960. Fritz Tobias: Der Reichstagsbrand: Legende und Wirklichkeit, Rastatt 1962.
4
»Ich bin ein Lump, Herr Staatsanwalt«. Die Serie mit dem Untertitel: »Gehenkte machen Revolution. Vom Schicksal der Laszlo Rajk, Traitscho Kostoff, Rudolf Slansky und anderer geehrter Toter.« begann im Spiegel 10. Jg. Nr.46 vom 14.11.1956. Die 9. Folge (11. Jg. Nr. 3 vom 16.1.1957) bezog sich dezidiert auf van der Lubbe. Schmidt versuchte darin den Nachweis zu erbringen, dass der Angeklagte während des Prozesses keinesfalls unter Drogen gestanden haben könne. Van der Lubbes Aussage, er sei der allein verantwortliche Täter gewesen, erklärte Schmidt für glaubhaft, den Reichstagsbrandprozeß stellte er als im wesentlichen rechtsstaatliches Verfahren dar. Wigbert Benz: Paul Carell. Ribbentrops Pressechef Paul Karl Schmidt vor und nach 1945, Berlin 2005.
5
Ernst Piper: »Als der Reichstag brannte«, Spiegel online,, 8. Februar 2008; »Flammendes Fanal«, 25.02.2008, Spiegel TV, 22.50-23.20 Uhr, SAT.1.
6
Die Arbeit wurde erst 40 Jahre später, lange nach dem Tod Schneiders veröffentlicht (Hans Schneider: Neues zum Reichstagsbrand? Eine Dokumentation. Ein Versäumnis der deutschen Geschichtsschreibung, Berlin 2004.
7
In Stuttgart saß damals als Chef der Landesregierung von Baden-Württemberg Kurt Georg Kiesinger, ehemaliger Verbindungsmann zwischen Goebbels und Ribbentrop zur Abstimmung der Auslandspropaganda (Spezialgebiet: Nachrichtenfälschung).
8
Leserbrief »Einzeltäterthese ist falsch«, in: FAZ, 21.01.2008.
9
U. Backes. K. H. Janßen, E. Jesse, H. Köhler, H. Mommsen, F. Tobias: »Reichstagsbrand. Aufklärung einer historischen Legende«, München 1986
10
Alexander Bahar/Wilfried Kugel: Der Reichstagsbrand. Wie Geschichte gemacht wird, Berlin 2001.
11
Walther Hofer, Eduard Calic, Christoph Graf, Friedrich Zipfel: »Der Reichstagsbrand. Eine Dokumentation«, neu hg. u. bearb. von Alexander Bahar, Freiburg i. Br. 1992
12
Autor ist der Welt-Redakteur S.F. Kellerhoff. Das Büchlein wurde im Vorfeld des 75. Jahrestags in einer konzertierten Aktion vom Spiegel und der Springer-Presse gepusht und mit Lob übergossen.
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